
Und ich heule

Was bereitet Menschen am besten auf das Leben vor? Was brauchen sie, um zurechtzukommen, sich zu orientieren, ihren Mann zu stehen? Tilmann Trittmacher kam ans TSA und hoffte, dort Antworten zu finden. Bis er merkte, dass seine Fragen nicht funktionierten, irgendwie kaputt waren. Am Ende ging er dennoch reicher nach Hause, als er gekommen war.
Ich liebe Filme! Weil gut erzählte Geschichten mein Leben umkrempeln können. Ein Beispiel gefällig? Dafür müssen wir ein wenig in der Zeit zurückreisen. Es ist Januar 2020. Ich sitze im dicken Pulli im Dachgeschoss eines Kieler Einfamilienhauses. Die Heizung habe ich innerhalb von zwei Monaten fünfmal entlüftet – und trotzdem bleibt es kalt. Der norddeutsche Wind zieht die letzte Restwärme aus unserer schlecht isolierten Dachgeschosswohnung. Meine Frau und ich sind für fünf Monate hier untergekommen. Seit einiger Zeit kreist in meinem Kopf die Frage: Gemeindepädagoge oder Künstler? Beide Wege haben Vor- und Nachteile, beide scheinen gleich richtig – was die Entscheidung nicht einfacher macht.
Einfach machen?
Um meinen aufreibenden Gedanken zu entkommen, starte ich ein YouTube-Video. Ablenkung, Zerstreuung – diese Strategie scheint wenigstens etwas mentale Entlastung zu versprechen. Doch bevor das Video beginnt: Werbung. Wie nervig! Gerade will ich nach fünf Sekunden auf „Überspringen“ klicken, da packt mich der Werbeclip völlig unerwartet. Auf meiner Netzhaut spiegeln sich Szenen von Menschen in schwierigen Situationen. Da ist ein Junge, der vor seinen Mitschülern zögert, vom 10-Meter-Brett zu springen. Eine Geschäftsfrau ringt mit sich, in einem Konferenzraum voller älterer Männer ihre Idee vorzustellen. Ein korpulenter Mann überlegt, ob er tatsächlich zum Ballettunterricht gehen soll. Ihnen allen scheint der Mut zu fehlen. Es wird dramatischer. Und dann: Machen sie alle einfach los! Niemand hat ihnen gesagt, was sie tun sollen. Es gab keine Stimme von außen. Es war vielmehr ein innerer Entschluss, einfach ins kalte Wasser zu springen. Ohne das Ergebnis zu kennen.
Der Clip endet. Die Haufe-Unternehmensgruppe wirbt mit ihrer Dienstleistung. Und ich heule. Gibt´s denn sowas: Weinen durch Youtube-Werbung? Der Clip traf mich tief. Wahrscheinlich war genau das beabsichtigt – aber das spielt keine Rolle. Ich beschließe, den Sprung zu wagen: Ins kalte Wasser der kreativen Selbstständigkeit, ohne zu wissen, was mich erwartet.
Ich wollte sicher sein
Ist Mut, keine Angst zu haben? Immer stark zu sein? Ich glaube nicht. Für mich bedeutet Mut, trotz Angst das Richtige zu tun. Und ich habe gelernt, wie viel Angst ich haben kann. Als ich ans theologische Seminar Adelshofen kam, wollte ich vor allem Antworten finden: Fester im Glauben werden, Gott besser kennenlernen, sicherer sein. Das funktionierte anfangs auch – bis zum Dogmatik-Unterricht. Dr. Wolfgang Schnabel stellte alles in Frage. Mein Bild von Gott wurde Stück für Stück zerlegt. Was blieb, war Unsicherheit. Sollte das so sein? Ist das der Sinn eines Theologischen Seminars? Im Rückblick: ja.
Nach und nach fügte sich alles wieder zusammen – anders als zuvor. Mein Wunsch, Gott besser kennenzulernen, war im Grunde ein Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle. Aber Gott lässt sich nicht kontrollieren. Er ist wie ein ungezähmter Löwe: majestätisch, wild, beeindruckend – aber eben auch gefährlich. Eben kein dickes Schoßhündchen bei Oma auf dem Sofa. Ich habe den Eindruck, dass wir Menschen für das Unbekannte gemacht sind. Wer alles kontrolliert, verliert Lebendigkeit. Doch Mut kann auch gefährlich sein.
Aller Angst zum Trotz
Ich erinnere mich an einen Wintertag in meiner Kindheit. Ich war neun Jahre alt und wollte wie die coolen Jungs auf dem zugefrorenen Fluss Schlittschuhlaufen. Also zog ich mir die Schuhe an und machte los. Das Gefühl war herrlich. Bäume und Schilf rauschten an mir vorbei und ich fühlte echte Freiheit. Bis das Eis nachgab. Sofort schoss das kalte Wasser meine Beine hoch. Gerade noch so konnte ich mich an der Bruchkante festhalten. Mein Adrenalinspiegel ging durch die Decke. Verzweifelt versuchte ich mich aus dem Eisloch zu ziehen. Tatsächlich gelang es mir, meinen Kinderkörper über Wasser zu halten. Die Beine folgten. In dem Moment, als meine völlig durchnässte Hose Oberwasser hatte, machte sich sofort die Kälte bemerkbar. Ich beeilte mich, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Da bin ich noch einmal mit dem Leben davongekommen.
War das mutig von mir? Hm, im Rückblick wohl eher leichtsinnig. Mein Leben hätte mit 9 Jahren auch zu Ende sein können. Das ist der Nachteil, wenn man einfach losspringt. Man weiß nie, was passiert. Und doch, trotz der Unsicherheiten und Gefahren, fühle ich mich lebendig, wenn ich mutig und ängstlich zugleich ins Unbekannte springe. Das ist etwas, das ich bewahren möchte – allen Ängsten und aller Vorsicht zum Trotz.
Tilmann Trittmacher lebt mit seiner Frau Naemi in Plauen, ist gerade zum ersten Mal Vater geworden und studierte von 2016 bis 2020 am TSA. Er liebt die mediterrane Küche, kaltes Bier und spaziert liebend gern allein durch den Wald. Mehr über ihn und seine Arbeit unter: tillustrator.com