Luther: Seelsorge zwischen Trost und Trotz

Von Pfr. Dr. Rolf Sons

Martin Luthers Umgang mit Angefochtenen

Zu den beeindruckendsten Dokumenten der Seelsorgegeschichte zählen Martin Luthers Trostbriefe. Von den ungefähr 3000 Briefen, die uns von dem Reformator erhalten sind, zählen etwa 300 zu dieser Gattung. Luther wendet sich in ihnen an Angefochtene, Kranke, Depressive, Sterbende und Verzagte. Er schreibt an seine Frau Käthe, die sich vor lauter Sorgen um ihren Ehemann verzehrt oder an seinen Mitstreiter Melanchthon, der auf dem Reichstag zu Augsburg angesichts der übermächtigen Gegner zu verzagen droht. Luther steht seinen Freunden brieflich bei, wenn sie von Skrupeln und Selbstzweifeln geplagt sind oder in Einsamkeit zu versinken drohen. Besorgt wendet er sich seiner kranken Mutter zu. Väterlich ermutigt er seinen Sohn Hans. In all diesen Briefen zeigt sich, wie der Reformator Menschen beistehen konnte. Zum einen, indem er sie durch Gottes Wort tröstete und ermutigte auf Jesus Christus zu schauen. Zum anderen, indem er sie zu aktivem Kampf und Widerstand gegen die Anfechtung aufforderte. Trost und Trotz waren die beiden Brennpunkte seiner Seelsorge. Beides gehört für ihn eng zusammen und eines ist ohne das andere nicht zu denken.

Wir wollen im Folgenden einige Passagen seiner Briefe genauer anschauen. Dabei werden wir sehen, wie Luther, der selbst ein zutiefst angefochtener Mensch war, auf andere in ihrer Anfechtung einzugehen vermochte und ihnen einen Weg zeigt, die Anfechtung zu überwinden. Luthers Seelsorgeschreiben besitzen Kraft, auch uns heute in unseren eigenen Glaubensanfechtungen zu ermutigen.

1. Trost in Gottes Wort

Luthers Verständnis von Trost unterscheidet sich ziemlich deutlich von dem, was man allgemein unter Trost versteht. Trost ist für ihn nichts Weiches, Emotionales oder eine Erfahrung, die dem Menschen gute und angenehme Gefühle vermittelt. Trost ist vielmehr etwas Festes und Beständiges, mitunter sogar etwas Hartes. Das Wort „Trost“ hängt in seiner deutschen Wurzel eng mit dem Wort „treu“ oder auch mit den englischen Worten „true“ (wahr) oder „tree“ (Baum) zusammen. Trost ist also etwas Festes und Verlässliches. Was also tröstet den Menschen? Es ist für Luther die schlichte Wahrheit, dass er sich im Leben und Sterben auf Jesus Christus verlassen kann. Schon als junger Mensch hatte ihm sein Seelsorger, der Augustinermönch und Theologieprofessor Johann Staupitz, auf den Trost Gottes hingewiesen. In seinen Gewissensnöten gab ihm dieser den Rat, die Wunden Christi zu meditieren. Staupitz wollte, dass Luther sich nicht so sehr mit sich selbst und seinen Gewissensängsten beschäftigte, sondern vielmehr mit dem, was Gott in Jesus Christus für ihn getan hatte. Im Kreuzestod Jesu liege der ganze Trost für seine angefochtene Seele. Luther konnte im Rückblick sagen, dass es Staupitz war, „der die evangelische Sache bei ihm begonnen hatte“.

Schauen wir nun Luthers eigene Seelsorge an, so begegnet uns dieser Grundzug Schritt für Schritt. Luther wendet den Blick des Ratsuchenden weg von sich selbst und lenkt ihn auf Jesus Christus, das Kreuz oder das Wort Gottes. Seelsorge geschieht als ein Blickwechsel. Manchmal ist dieser Blickwechsel mit großer Anstrengung und hartem Kampf verbunden.

Einer der „Klassiker“ unter seinen Briefen ist derjenige an Jonas von Stockhausen. Stockhausen war Hauptmann und ein guter Freund Luthers.

Gnad und Fried in Christo. Gestrenger, fester, lieber Herrund Freund! Mir ist von guten Freunden angezeigt worden, wie euch der böse Feind hart anficht mit Überdruss des Lebens und Begierde des Todes. O mein lieber Freund, hier ist es höchste Zeit, dass ihr euren Gedanken ja nicht trauet noch folget, sondern höret andere Leute, die solcher Anfechtung frei sind; ja bindet eure Ohren fest an unseren Mund und lasst unser Wort in euer Herz gehen, so wird Gott durch unser Wort euch trösten und stärken.

Martin Luther Werke Bd. 6, Inselausgabe 1983, 152f.

Stockhausen befand sich in einer schweren Anfechtung, die in vielem an eine Depression erinnert. Dabei wächst in ihm die Todessehnsucht, und der Gedanke an Suizid gewinnt immer mehr Raum. Luther nimmt diese Anfechtung sehr ernst und spricht sie auch sehr direkt an. Es wird nichts beschönigt, verharmlost oder verschwiegen. Luther handelt hier richtig. Todessehnsüchte gehören zum Erscheinungsbild einer Depression und dürfen auch offen angesprochen werden. Dann geht Luther noch einen Schritt weiter. Er lässt den von Todeswünschen geplagten Freund nicht bei seinen Gedanken. Vielmehr weist er ihn hin auf den Glauben und Gottes Wort. Entscheidend ist dabei, dass dieses Wort durch den Seelsorger gesprochen wird, also von außen auf den Angefochtenen zukommt und nicht seinem eigenen Herzen entstammt. In der Gemeinschaft der Glaubenden und durch den Zuspruch des Wortes Gottes kann der Anfechtung begegnet werden. Seelsorge heißt für Luther den Menschen nicht bei sich selbst, seinen Gefühlen und Stimmungen zu lassen, sondern ihn auf die Basis des Wortes Gottes zu stellen. Dieses aber muss von außen zugesprochen werden. 

Licht und Zuversicht

Die eigenen Kräfte des Menschen und auch sein Wille sind zu schwach, um sich von dunklen Gedanken zu befreien. Durch das von außen kommende Wort kommen Licht und Zuversicht in die Situation des Trostlosen. Selbst wenn es sein kann, dass der Depressive mit Schriftworten emotional nichts verbinden kann, so sind diese Worte eine Wirklichkeit, die trägt. Wie sehr Luther das „extra nos“ betont, wird in einem weiteren Brief deutlich. Margarete Eschat war in ihrem Gewissen angefochten, weil ihr das Fluchwort entschlüpft war „Ich wollte, dass der Teufel alle die holte, die dazu geraten haben, dass mein Mann Bürgermeister worden“. Offensichtlich hatte die Bürgermeisterfrau sich ein Gewissen gemacht, weil ihr unbedacht und im Affekt eine böse Verwünschung herausgerutscht war. In ihren Gewissensnöten wendet sie sich an den Reformator, der ihr dann in einem Brief die folgende Antwort gi

Derhalben sollst du, lieber Margerita, nicht deinen, noch des Teufels Gedanken glauben, sondern uns Predigern, welchen Gott befohlen hat, die Seelen zu unterrichten und zu trösten….Solches sollst du glauben und daran gar nicht zweifeln. Nun sprechen wir Prediger dich los und frei in Christi Namen und aus einem Befehl nicht allein von dieser einigen Sünde, sondern von allen Sünden, die dir angeboren sind, welche so groß und viele sind, dass sie Gott zu gut nicht will in diesem Leben alle und ganz sehen lassen und recht fühlen (denn wir könnten´s nicht ertragen), viel weniger uns zurechnen, so wir an ihn glauben. Darum sei zufrieden und getrost, dir sind deine Sünden vergeben; da verlasse dich kühn drauf, kehr dich nicht an deine Gedanken, sondern höre allein, was dir deine Pfarrherren und Prediger Gottes Wort vorsagen, verachte ihr Werk und Trost nicht. Denn Christus selbst ist es, der durch sie spricht. Solches glaube, so wird der Teufel weichen und aufhören. Bist du aber noch schwachgläubig, so sprich: ich wollte ja gerne stärker glauben, weiß auch wohl, dass solches wahr und zu glauben ist. Ob ich´s nun nicht genug glaube, so weiß ich doch, dass es die lautere Wahrheit ist. Das heißet auch glauben zur Gerechtigkeit.

WA Br 10, 239f (Nr. 3837)

Luther weiß aus eigener Erfahrung, welch unsichere Basis die eigenen Gefühle und Einreden sind. Daher weist er die Angefochtene hin auf Gottes Wort, welches durch Menschen vermittelt wird. Vermag die Angefochtene das Wort des Zuspruchs nicht glauben bzw. für sich selbst in Anspruch nehmen, so soll sie sich doch damit trösten, dass sie für sich selbst weiß, dass die Worte wohl wahr sind, auch wenn sie diese (noch) nicht fassen kann. Luthers Trostseelsorge war in erster Linie Wort-Gottes -Seelsorge. Er wollte den Menschen von dem unsicheren Fundament der eigenen Gefühle und Befindlichkeiten wegholen und ihn auf ein Fundament stellen, das ihn trägt. 

2. Dem Teufel widerstehen

Nicht nur der Trost, auch der Trotz gehört zu Luthers Seelsorge. Luther ruft die Angefochtenen zu aktivem Widerstand gegen das Böse auf. Als Mönch war Luther diese sogenannte „kontrafaktische Seelsorge“ wohl vertraut. Das geistliche Leben der Mönche bestand zum großen Teil darin, sich aktiv gegen Eingebungen des Bösen zu wehren. Dies geschah großenteils durch Schriftworte oder auch durch schlichtes Nichtbeachten des Bösen. Ein eindrückliches Beispiel solch einer kontrafaktischen Seelsorge findet sich in einem Brief an Hiernoymus Weller. Dieser war von 1525 – 1535 Student in Wittenberg. Später dann wurde er Hauslehrer und Mitbewohner im Hause Luther. Luther hält auch dann den Kontakt zu seinem ehemaligen Schüler, als dieser Professor der Theologie in Freiberg geworden war. Als dem Reformator zu Ohren kommt, dass Weller mit Depressionen zu kämpfen hatte, richtet er die folgenden Zeilen an ihn: 

 

In dieser Art Anfechtung und des Kampfes ist die Verachtung die beste und leichteste Weise den Teufel zu besiegen. Verlache den Widersacher und suche jemanden, mit dem Du vertraulich plaudern kannst. Die Einsamkeit musst du auf jede Weise fliehen, denn so fängt er dich am sichersten und stellt dir nach, wenn du allein bist. Durch Spott und Verachtung wird dieser Teufel überwunden, nicht durch Widerstand und Disputieren. Daher sollst du mit deiner Frau und den anderen scherzen und spielen, damit du diese teuflischen Gedanken zu Fall bringst, und sei darauf bedacht, dass du guten Mutes bist, lieber Hieronymus … Und sooft dich der Teufel mit diesen Gedanken plaget, suche sofort die Unterredung mit Menschen oder trinke etwas reichlicher oder treibe Scherze und Possen oder tue irgend etwas anderes Heiteres. Man muss bisweilen mehr trinken, spielen, Kurzweil treiben, und hierbei sogar irgend eine Sünde riskieren, und dem Teufel Abscheu und Verachtung zeigen, damit wir ihm ja keine Gelegenheit geben, uns aus Kleinigkeiten eine Gewissenssache zu machen. Andernfalls werden wir überwunden, wenn wir uns ängstlich darum sorgen, dass wir ja nicht sündigen. Deswegen, wenn der Teufel einmal sagt: `Trinke nicht!´, so sollt ihr ihm zur Antwort geben: `Gerade darum will ich kräftig trinken, weil du es verwehrt, und zwar trinke ich umso mehr.´ So muss man das Gegenteil von dem tun, was der Satan verbietet. Aus was für einen anderen Grund glaubt ihr, dass ich – so wie ich’s tue – kräftiger trinke, zwanglos plaudere, öfter esse, als um den Teufel zu verspotten und zu plagen, der mich plagen und verspotten wollte?

Kurt Aland, Martin Luther Deutsch, Bd. 10 Briefe, Stuttgart 1959, 214f.

Depression macht einsam

Depressive ziehen sich mehr zurück und würden manchmal am liebsten in einem Loch aus dieser Welt verschwinden. Die Gefahr dabei ist, dass sie den Kontakt zum Leben verlieren und völlig isoliert ihr Dasein fristen. Luther ist sich dieser Gefahr offensichtlich bewusst und rät daher seinem Freund, dagegen anzukämpfen. Zunächst indem er ihn bittet, den trüben Gedanken keinen Einfluss zu geben. Je mehr man sich mit ihnen beschäf tigt, desto stärker ziehen sie einen in die Tiefe.

Gedanken sind wie Bilder. Sie setzen sich im Bewusstsein eines Menschen fest. Sie prägen ihn und können auf diese Weise bestimmen und festhalten. Luthers Rat ist daher eindeutig: er soll den Teufel, den er als Urheber solcher Gedanken sieht, verachten und verlachen. Weiter rät er seinem Freund, sich mit seiner Frau oder mit Freunden ein paar schöne Stunden zu machen. Schließlich geht er sogar soweit, dass er den depressiven Freund ermutigt, sich mit Späßen oder gar mit einem guten Gläschen Wein abzulenken.

Auf den ersten Blick mag uns diese Art der Seelsorge irritieren. Geht Luther hier nicht oberflächlich vor? Ist es wirklich einfühlsam, an Depressive Appelle zu richten? Hat Luther überhaupt die Tiefe einer Depression erfasst, wenn er dazu rät, diese überhaupt nicht ernst zu nehmen und ihr einfach ins Gesicht zu lachen? Wir wissen aus eigener Erfahrung, wie wenig man schlechte Stimmungen einfach hinter sich lassen kann. Um wie viel weniger dann eine Depression?

Nicht machtlos ausgeliefert

Trotz dieser Anfragen möchte ich Luthers Anregungen aufnehmen und sie nicht einfach abtun. Luther macht seinem Freund zunächst bewusst, in welcher Gefahr er sich befindet. Dabei zeigt er durchaus psychologische Intuition. Zunächst setzt Luther auf der kognitiven Ebene an. Starkes Grübeln zählt zu den Symptomen einer Depression. Sobald Hieronymus Weller an sich selber diese Grübelphasen entdeckt, soll er sich dagegen wehren. So macht er ihm klar, dass er seinen schwermütigen Gedanken nicht völlig machtlos ausgeliefert ist, sondern dass er etwas dagegen tun kann.

Luther überlässt seinen Freund nicht der Passivität. Dieser soll nicht mit Selbstmitleid auf seine schweren Gedanken reagieren, sondern diesen aktiv etwas entgegensetzen. Tatsächlich raten die psychologischen Fachleute, Grübelgedanken nicht einfach zuzulassen, sondern etwas gegen sie zu unternehmen.

Holger Eschmann hat mit einem Verweis auf Viktor Frankl eine Strukturanalogie zwischen Luthers Umgang mit Angefochtenen und der sogenannten „Paradoxen Intervention“, wie Frankl sie bei zwanghaften Störungen anwandte, erkannt.4 Gemäß dieser therapeutischen Regel sollen Patienten genau das tun, was sie eigentlich vermeiden wollen. In dem Moment, wo ein Patient an die Stelle von Angst die paradoxe Absicht treten lässt, nimmt er dieser Angst den Wind aus den Segeln. So lernt er, die Angst anzuschauen bzw. ihr ins Gesicht zu lachen. Gemäß demselben Muster, so Eschmann, geht auch Luther im Falle von Hieronymus Weller vor. Luther erkennt, dass ein von Schuldgefühlen angefochtener Mensch, noch viel tiefer in den Strudel eigener Selbstvorwürfe hineingerät, wenn er nur ängstlich darauf starrt, nicht zu sündigen.

Deshalb rät er das genaue Gegenteil von dem zu tun, was der Teufel rät. Er soll sich nicht zurückziehen und sich dem Leben verweigern, sondern das Leben gerade suchen und genießen. Durch den humorvoll übertriebenen Wunsch, das Leben zu genießen, wird der Kreislauf von Angst, die immer neue Angst hervorbringt, durchbrochen.

Kein Freibrief zum Sündigen

Luther wäre hier missverstanden, wenn man solche Ratschläge als Freibrief zum Sündigen verstehen wollte. Man würde auf diese Weise dem Teufel kaum die Stirn bieten. Wenn man aber jenen Hintergrund übertriebener, skrupulöser Angst annimmt, macht sein Rat Sinn. Nun lässt sich der Angefochtene nicht länger vom Teufel in seinem Gewissen binden. Weil er an Christus gebunden ist, ist er frei. Er muss nicht beständig auf das schauen, was ihm Angst macht. Im Gegenteil. Er kann darüber spotten, lachen und tun, wozu er Lust hat und dabei zu größerer Freiheit und Gelassenheit gelangen. Wir sehen, wie Luther obwohl er in „vorpsychologischer“ Zeit lebte, instinktiv das psychologisch Richtige macht. Anders formuliert: Wir erkennen, wie sein theologischseelsorgerlicher Hinweis, die Sünde nicht so ernst zu nehmen, ein zutiefst psychologisches Moment besitzt.

In demselben Brief an Hieronymus Weller nennt er diesem eine weitere Strategie gegen den Teufel.

Darum, so oft euch diese Anfechtung anfallen wird, hütet euch davor, mit dem Teufel eine Disputation anzufangen oder solchen Gedanken nachzuhängen. Denn das bedeutet nichts anderes als dem Teufel nachgeben und ihm unterliegen. (...) Verlacht den Feind! In dieser Art Anfechtung und des Kampfes ist die Verachtung die beste und leichteste Weise, den Teufel zu besiegen. Verlache den Widersacher und suche jemanden, mit dem du vertraulich plaudern kannst. Die Einsamkeit musst du auf jede Weise fliehen, denn so fängt er dich am sichersten und stellt dir nach, wenn du allein bist. Durch Spott und Verachtung wird dieser Teufel überwunden, nicht durch Widerstand und Disputieren. Daher sollst du mit deiner Frau und den anderen scherzen und spielen, damit du diese teuflischen Gedanken zu Fall bringst, und sei darauf bedacht, dass du guten Mutes bist, lieber Hieronymus …

Holger Eschmann, Dem Teufel ins Gesicht lachen, in: Pastoraltheologie 87. Jg. (1998), 44f.

Dem bereits erwähnten Jonas von Stockhausen gibt er den ganz ähnlichen Rat:

Wohlan, Teufel, lass mich ungehindert, ich kann jetzt nicht deiner Gedanken warten, ich muss reiten, fahren, essen, trinken, das oder das tun: kurz: ich muss jetzt fröhlich sein, komm morgen wieder.

In den Briefen an Weller und Stockhausen öffnet Luther ein ganzes Arsenal an Strategien, um den Teufel zu überlisten. Eine davon ist, dem Teufel überhaupt kein Gehör zu schenken. Man stelle auf „Durchzug“. Luther verfolgt damit die feste Absicht, den Teufel in jeder Weise zu ignorieren und ihn damit zu beleidigen. Wer anfängt, sich mit dem Teufel zu unterhalten oder mit ihm zu disputieren, erreiche gerade das Gegenteil von dem, was es zu tun gilt. Er macht ihn groß, anstatt ihn zu verachten. Wer sich in ausgiebiger Weise mit dem Teufel – und sei es nur unter dem Vorwand, ihn zu bekämpfen – beschäftigt, bekämpft ihn in Wirklichkeit nicht. Er verleiht ihm Ehre und Gewicht, die er nicht verdient. 

3. Trost für Überarbeitete

Es gibt Sätze in Luthers Seelsorge, die sehr speziell und situationsbezogen sind und nicht in jedem Fall weitergereicht werden dürfen. Dies gilt im Besonderen auch für den folgenden Rat an Philipp Melanchthon. Dieser war in seinem unentwegten Sorgen und Arbeiten an einen Punkt gekommen, wo es für ihn selbst gefährlich werden konnte. Luther rückt ihn zurecht und ermahnt ihn, er solle sich auch um das Wohl seines Körpers kümmern. Er werde sonst noch zum Selbstmörder bei so viel Sorge und dazu bilde er sich noch fälschlicherweise ein, dieses geschehe im Gehorsam gegenüber Gott. Abschließend gibt er ihm den folgenden Rat: 

 

Gott wird auch durch Muße gedient und durch nichts mehr als durch Muße. Deshalb ist es sein Wille, dass der Sabbat so streng vor anderem gehalten werde. Missachte das ja nicht! Es ist Gottes Wort, was ich dir schreibe

WA BR 5, 317: „Deo etiam seritur otio, imo nulla re magis quam otio.“

Protestantische Lebenskunst

Gott durch Muße zu dienen, scheint auf den ersten Blick jeder protestantischen (und auch schwäbisch-pietistischen) Arbeitsethik zu widersprechen. „Muße“ besitzt in vielen Ohren einen negativen Klang. Sprichwörter wie „Müßiggang ist aller Laster Anfang“ oder „Arbeit hat Gulden, Müßiggang macht Schulden“ haben die Muße in Verruf gebracht. Dabei ist Muße – so der Duden – zunächst freie Zeit bzw. Gelegenheit, etwas tun zu können. Muße ist schöne, gewonnene Zeit. Theologisch gesehen erinnert die Muße an den siebten Schöpfungstag, den Sabbat. Ihn zu feiern, war das erste, das der Mensch nach der Schöpfung zu tun hatte. Gleichzeitig erinnert sie uns an den ewigen Sabbat, die Vollendung der Welt. Muße ist daher immer auch mit Vorwegnahme der Zukunft verbunden. Solange wir daher auf dem Weg durch unsere Welt sind, erinnert uns die Ruhe daran, dass der Mensch nicht nur von der Arbeit lebt. Zugleich schenkt sie uns in dieser Welt schon einen Vorgeschmack von der ewigen Ruhe bei Gott.

Luther entfaltet an dieser Stelle ein Stück protestantischer Lebenskunst, das uns in unserer zur zweiten Natur gewordenen Dauerbetriebsamkeit nicht verloren gehen darf. Muße macht Sinn. Sie ist zwecklos, aber nicht sinnlos. Muße lässt ruhen. Aber sie ist nicht passiv. Sie lässt aufnehmen, schauen, wahrnehmen. Muße lässt sein. Sie ist Zeit, in der wir nichts Produktives herstellen müssen und dennoch keine vertane Zeit.

Luthers Rat zwingt uns als ein Volk von „Schaffern und Häuslebauern“ darüber nachzudenken, wovon wir eigentlich leben. Nämlich nicht allein von unserem Schaffen und Wirken, sondern von der Rechtfertigung Gottes. Gerade an diesem Punkt, wo es um menschliches Arbeiten und Wirken geht, erfährt die Rechtfertigungsseelsorge noch einmal eine Aufwertung. Auch und gerade in der Muße sind wir Menschen von Gott gesegnet.

Wie wichtig diese Gedanken Luthers angesichts knapper Termine, Hetze und Arbeitsüberlastung sind, mag jeder selbst ermessen. Nicht der Mensch ist Atlas dieser Welt. Christus trägt sie. Wer darum weiß, kann wie Luther fröhlich sein Wittenbergisch Bier trinken, während das Evangelium läuft. Er kann es sich leisten zu ruhen, weil er weiß, dass der Schöpfer unentwegt am Wirken ist. Rechtfertigungsseelsorge befreit ihn zu echten, guten Werken und sie lässt auch ruhen und entspannen. 

Dr. Rolf Sons

ist Pfarrer in Flein / bei Heilbronn und unterrichtet als Gastdozent am Theologischen Seminar Adelshofen.