Unverschämt und dankbar

Unsere Selbstwahrnehmung ist eng mit sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Normen verwoben. Wie reagieren andere Menschen auf uns, und was denken wir, was sie denken, wie wir zu sein hätten? Offensichtlich sind wir diesbezüglich stark verunsichert. Monika Baumann setzt sich mit dem Thema auseinander und kommt zu dem Schluss: Lern von den Kindern.

 

 

Laut Stavemann (2018) sind über 80% aller emotionalen Probleme, die Menschen in eine Therapie führen, mit Selbstwertproblemen verbunden: Menschen machen Leistung, Anerkennung, Beliebtheit oder Besitz zum Gradmesser für den eigenen Wert und fürchten, mit dem Ausbleiben dieser Dinge ihren Selbstwert zu verlieren. Ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln bedeutet, diese Maßstäbe als ungeeignet zu entlarven und den eigenen Wert als davon unabhängig zu verankern.

 

Drei Wege zu dir selbst

Auf die Frage: „Wer bin ich?“ stehen uns laut Sozialpsychologie drei Erkenntniswege zur Verfügung. Introspektion meint das „Nach innen schauen“, um etwas über sich zu erfahren. Allerdings kommt es dabei zu Verzerrungen. Wir suchen rationale Gründe für unsere spontanen Aktionen (quasi: um uns zu rechtfertigen) und täuschen uns gern über unsere wahren Motive hinweg. Ein zweiter Weg der Selbstwahrnehmung ist, das eigene Verhalten zu beobachten und zu prüfen, inwieweit es zu den eigenen Wertvorstellungen passt. Der dritte Weg ist der soziale Vergleich: Um herauszufinden, wie gut wir zum Beispiel im Tennis sind, vergleichen wir uns mit anderen in unserem Verein – vorzugsweise mit solchen, die auf ähnlichem Level spielen wie wir. Ebenso nehmen wir uns darin wahr, wie andere auf uns reagieren – positiv, gleichgültig oder negativ?

 

Wir bilden unser Selbstkonzept

Auf diese Weise bilden wir ein subjektives Bild von uns selbst, unser Selbstkonzept. Es enthält alle Annahmen und Gefühle, Glaubenssätze und Überzeugungen, die wir mit uns selbst verbinden. Die neurowissenschaftliche Forschung hat herausgefunden, wo diese Theorie abgespeichert wird; es sind die sogenannten „Selbstnetzwerke“, die im unteren Bereich des Stirnhirns, über den Augenhöhlen zur Mitte hin, gelegen sind. Wenn sie aktiv sind, das heißt, wenn wir über uns nachdenken, schwingen Vorstellungen über die Innenwelt von uns nahestehenden Menschen mit. Dies können Familienangehörige, prägende Vorbilder oder auch fiktionale Figuren sein. Dieses Überlappen unserer eigenen Person mit nahestehenden oder bedeutsamen Menschen in unseren Selbstnetzwerken entsteht schon sehr früh: In den ersten beiden Lebensjahren lebt ein Kind in einer engen, von seinen Bezugspersonen abhängigen Beziehung. Aus dem, was es mit ihnen erlebt, zieht das Kind Rückschlüsse auf sich selbst, denn zunächst kann es sich selbst gar nicht als getrennt von ihnen existierend denken. Diese neuronale Koppelung bleibt ein Stück weit lebenslang erhalten. Sie ermöglicht uns, dass wir mit anderen mitfühlen und uns in sie hineinversetzen können (Bauer 2022:56).

 

Da schwingt was mit

Man kann sich das vorstellen wie eine Gitarre, deren Saiten mitschwingen, wenn die einer anderen Gitarre angeschlagen werden. Ähnlich geben wir Menschen uns gegenseitig Resonanz: Wir erwidern einen Blick mit einem Lächeln und geben dem Absender eine Auskunft darüber, wer er für uns ist. Wenn wir von einem Menschen, der uns etwas bedeutet, eine wertschätzende Resonanz erhalten, aktiviert das unsere Selbstnetzwerke. Auf neuronaler Ebene wird somit bestätigt, was schon der jüdische Religionsphilosoph Matin Buber formulierte: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Dass ein Kind ein positives Selbstkonzept entwickelt, geschieht leichter, wenn es in einer liebevollen, wertschätzenden Umgebung aufwächst, die Raum für eigenes Handeln lässt sowie vielfältige Unterstützung bietet. So kann es lernen, Gefühle zuzulassen und sinnvoll mit ihnen umzugehen. Es erfährt, dass Menschen sich über es freuen, und bekommt den Eindruck, so wie es ist in Ordnung zu sein. Ein Kleinkind handelt ganz natürlich aus seinem Selbst heraus: Es äußert seine Bedürfnisse ungefiltert und sagt, was es denkt. Je älter das Kind wird, umso mehr nimmt es wahr, dass manche Verhaltensweisen besser ankommen als andere und es beginnt, sich den Werten seiner Umgebung anzupassen. Carl Rogers spricht hier vom „Idealselbst“ und beschreibt, dass der Mensch versucht, das „Selbst“ zu sein, das andere von ihm erwarten: Weil er dazugehören und wertgeschätzt sein will, unterdrückt er Wünsche oder Handlungen. Je stärker ein Mensch sich nach außen auf eine Weise gibt, wie es seinem Inneren widerspricht, erlebt er eine Spannung bis hin zu einer psychischen Störung. Ein wertschätzendes, echtes und empathisches Gegenüber kann ihm helfen, seine blinden Flecken anzuschauen und wieder authentisch zu werden.

 

Raum der Annahme

Petrus erlebt dies auf unnachahmliche Weise mit seinem Herrn. Als Jesus ihm voraussagt, dass er ihn verleugnen wird, ist Petrus in seinem Idealselbst und absolut überzeugt, dass er Jesus bis in den eigenen Tod hinein verteidigen würde (Lukas 22,31-34). Er verleugnet seine schwachen, ängstlichen Anteile. Jesus sieht sein Versagen kommen, doch er sagt ihm zu, dass das nicht das Ende ist und gibt ihm heute schon die Aussicht auf den Auftrag, den er nach seinem Versagen bekommen wird („Wenn du dereinst dich bekehrst, stärke deine Brüder“). Was für ein Raum der Annahme! Es braucht Mut und Vertrauen, sich den eigenen Schattenseiten zu stellen und ins Licht zu kommen, damit die Wahrheit freimachen kann (Johannes 8,32). Wie wäre es wohl weitergegangen, wenn Petrus die Chance genutzt und gesagt hätte: „Jesus – ja, ich habe Angst, dass ich dir untreu werde. Was mach ich nur?“ Wer weiß, was Jesus ihm dann als Hilfe zugesprochen hätte.

 

Ich nehme dich beim Wort

Wie kann es nun gelingen, dass wir uns selbst so wahrnehmen, wie wir wirklich sind? Es gelingt leichter mit Hilfe eines wertschätzenden Gegenübers, beispielsweise in Seelsorge und Beratung oder durch ein Feedback von Wegbegleitern. Seelsorger dürfen dabei Christus nachahmen, der keine faulen Kompromisse machte, der Wahrheit ans Licht brachte – und dessen Ziel es dabei immer war, Menschen zum Vaterherz Gottes zurückzulieben. Dazu war es immer wieder nötig, die Illusionen aufzudecken, in die Menschen sich verrannt hatten. Denn die unbedingte Annahme des Menschen und die Aufforderung umzudenken und umzukehren waren bei Jesus zwei Seiten derselben Medaille (Zimmerling 2022:139). Wenn Jesus sagt, „werdet wie die Kinder“, dann lädt er uns ein, uns selbst ganz unverschämt und dankbar aus seiner Hand anzunehmen.

 

Uns über die Reaktionen unserer Mitmenschen zu definieren, ist eine zwiespältige Sache. Um wie viel hilfreicher ist es, in der Begegnung mit Gott und seinem Wort aufzunehmen, wie er uns sieht und wer wir in seinen Augen sind. In seiner Haltung zu uns, in seinen Worten und in seiner Selbsthingabe am Kreuz können wir erkennen, wo unser Wert unverbrüchlich verankert ist – in ihm. Das gibt uns ein Fundament, das uns niemand rauben kann.

 

 

Monika Baumann MTh (UNISA) ist Dozentin am TSA, unter anderem für Seelsorge, organisiert die Praktika der Studierenden und ist gerne in Gemeinden unterwegs. Freiberuflich ist sie Beraterin (BI) und Supervisorin (EASC), mehr unter: www.freiraumfinden.com