Von Gott bewegt

Von Br. Matthias Böker

Nehemia 2,10-20

Nehemia, der Mundschenk (1,11) jüdischer Abstammung, genießt am persischen Königshof volles Vertrauen. Als ihm die hoffnungslose Situation der einst so strahlenden Stadt Jerusalem berichtet wird, deren Stadtmauer auch viele Jahrzehnte nach ihrer Eroberung und großflächigen Zerstörung noch in Trümmern liegt, wühlt dies sein Herz tief auf (2,2). Über vier Monate hinweg nennt er Gott im Gebet diese Situation (1,1; 2,1). Und immer klarer reift in ihm die Gewissheit, verantwortlich handeln zu müssen. Aber wie?

 

Als dann eines Tages König Artaxerxes, dem Nehemia dient, ihn unvermittelt fragt – „Warum sieht dein Gesicht so traurig aus?“, ist er vorbereitet, erkennt in dieser Frage das Wirken Gottes (2,8) und schüttet dem König sein Herz aus. Sein Anliegen ist, mit Vollmachten und Geld ausgestattet und für längere Zeit freigestellt zu werden, um Jerusalems Stadtmauer aufzubauen. Tatsächlich wird es ihm gewährt. Nehemia nennt als Erklärung dafür, dass „die gute Hand Gottes über mir war“ (2,8).

Aus der Berufung wird eine Bewegung,

  • weil ein Mann sein Herz treffen lässt und fremdes Leid zu seinem Leid macht.
  • weil ein Mann sich erbarmt: er hört, hält inne, trauert, fastet und betet (1,4).
  • weil einem Mann die Anliegen Gottes wichtiger werden als die eigenen Belange.
  • weil ein Mann sich in seiner „wichtigen“ Arbeit unterbrechen lässt und darauf antwortet, so dass konkrete Vorstellungen wachsen und Entschlüsse reifen.
  • weil ein Mann eine neue Perspektive bekommt und erkennt, dass er hier gefordert ist, selbst verantwortlich zu handeln.

Im Bewusstsein dieser Berufung tritt Nehemia mit den Heerobersten und einer Reiterschutzmacht die lange Reise von gut 1300 Kilometern nach Jerusalem an (2,9- 10). Dort übergibt er den Verantwortungsträgern die Briefe des Königs (2,7-8), die ihn bevollmächtigen.

Jerusalem untersteht zu jener Zeit der Statthalterschaft von Samaria. Dort befürchtet man die Stärkung der Juden und somit eine Kompetenzeinbuße für die Besatzungsmacht. Wenn Juda erstarkt, wird man es politisch nicht mehr so leicht gängeln können. Das beunruhigt die Statthalter Sanballat und Tobia stark. Zwar war der Tempel 515 v.C. wieder aufgebaut worden, doch bis jetzt im Jahr 445 v. C., liegt die Stadtmauer niedergerissen da. Jerusalem gleicht einem Schutthaufen und ist somit bedeutungslos.

Nehemia steht vor der Herausforderung, seinen resignierten und teilweise entmutigten Landsleuten eine Schau für Gottes Plan zu vermitteln, Zuversicht zu wecken und die Einschüchterungen der Gegner zu überwinden. So wartet er drei Tage auf den rechten Zeitpunkt (2,11), um sein Vorhaben zu beginnen. Gut vorstellbar, dass er diese Tage betend verbringt. Dann verschafft er sich selbst erst einmal einen genauen Überblick über die Lage und bezieht dann die Juden mit ein.

1. LASST UNS DIE HERAUSFORDERUNG ANSCHAUEN

Nehemia schaut sich selbst die menschlich hoffnungslose Lage an. Was Gott ihm aufs Herz gelegt hat, bespricht er noch mit niemandem. Es gibt ein gutes, heiliges Schweigen, wenn man bewahrt, was Gott einem beginnt zu entfalten (vgl. Lk 2,19). Nehemia trägt das Herz nicht auf der Zunge, sondern hütet es vor dem Zugriff anderer. Auch stürzt er sich nicht blindlings in die Arbeit, sondern verschafft sich zuerst ein klares Bild (2,12-16). Passt die persönliche Beauftragung zu der vorliegenden Situation? Je klarer er die Lage einschätzt und die notwendigen Baumaßnahmen vordenkt, desto sicherer wird er alles darlegen, Stellung beziehen und auf Angriffe reagieren können.

Es ist Nacht, als er mit wenigen Begleitern auf einem Pferd unerkannt einige Mauerabschnitte untersucht. In der Nacht, in der andere Menschen schlafen, beschäftigt sich Nehemia hellwach mit der Not Jerusalems. Er tut es, weil der Kummer sein Herz erfüllt. Diese Nachtstunden stellen den einsamsten Teil seines Weges dar. Nehemia hat Kummer über die zerstörte Stadtmauer mit ihren Festungsanlagen, die früher so stattlich waren. Er ist betroffen. Die Lage ist bedrückend. Er, der für die Stadt und ihre Situation lange gebetet hat, stellt sich der Realität, der Lage vor Ort.

An manchen Stellen muss er absteigen, stolpert über Trümmer, weil der Verfall und die Verwüstung alles beherrschen. Der Eindruck der Gegner scheint erdrückend wahr zu sein, wenn sie zu verstehen geben: „Ihr seid doch ein armseliges und vergessenes Volk. Ihr kommt nie wieder hoch.“

Nehemia sieht die Realität der Zerstörung, aber auch Gottes Macht. Für ihn gehört beides zusammen: Mauerruinen und Gottes Weg in die Zukunft, Schutt und Gottes Ehre, Bauplanung und Gebet. Darin erwartet er Gottes Führung und Reden. Die Vision reift aus und wird immer wieder an der Realität geprüft.

Nun kennt er die Situation und der Zeitpunkt ist gekommen, mit den Juden in der Stadt zu reden (2,17): „Ihr seht das Unglück, in dem wir sind, dass Jerusalem verödet da liegt.“ Er sagt also: „Wir haben eine Herausforderung! Lasst sie uns anschauen!“ Nehemia kleidet in Worte, was er seit geraumer Zeit lebt: er identifiziert sich mit den Einwohnern von Jerusalem. Keine Anklage („Warum wart ihr denn bloß 70 Jahre untätig?“), keine Schuldzuweisung („Ihr seid so gleichgültig und verschlafen!“), keine spöttischen, kränkenden, aufstachelnden Bemerkungen („Die Mauerruine ist die beste Veranschaulichung für euer Gottvertrauen!“), keine plumpen Aufforderungen („Ihr Versager, macht mal!“). Stattdessen spricht Nehemia von „unserem“ Unglück, in dem „wir“ sind (2,17). Wie bei dem Gebet der stellvertretenden Buße (1,6-7) bezieht er sich selbst ein, stellt sich dazu, identifiziert sich mit den Jerusalemern: „Lasst uns die Herausforderung anschauen!“ Schaut euch die verödeten Tore an (2,17a).

Vielleicht hat Nehemia das „Unglück“ auch noch etwas erklärt: „Wir leben hier in einer geächteten Situation. Sind wir nicht das Volk Gottes? Unsere Würde wird mit Füßen getreten. Wie die Stadtmauer eingerissen ist, so ist auch die Achtung Gott und uns gegenüber eingerissen. Das Wichtigste: Es geht um Gottes Ehre, der uns berufen hat. Diese Ehre ist im wahrsten Sinne des Wortes in den Dreck und Staub getreten.“

 

Wenn unser Herz bereit ist, nicht mehr andere für ein Problem anzuklagen, sondern selbst Verantwortung zu tragen, dann können wir uns der Not stellen.

Vielleicht ist es an der Zeit, nicht länger über Missstände in der Familie, im Hauskreis oder am Arbeitsplatz resigniert zu seufzen, sondern miteinander offen zu sprechen und zu sagen: Lasst uns die Herausforderung anschauen! Sind das nicht offene Angriffsflächen, denen wir uns gemeinsam stellen müssen? Nach dieser Bestandsaufnahme sagt Nehemia (2,17b): „Kommt und lasst uns die Mauer Jerusalems wieder aufbauen, damit wir nicht länger geschmäht werden können.“ 


Zur persönlichen Besinnung:

  • Wo erlebe ich Gottes Reden aufrüttelnd oder beauftragend? Was denke oder empfinde ich dabei? Wie antworte ich darauf?
  • Wo habe ich schon lange Mauerruinen in meinem Leben? Was sind meine Probleme?

2. LASST UNS ZUSAMMENARBEITEN!

Unser Problem können wir nur gemeinsam lösen. Nehemia weiß, dass er die tatkräftige Unterstützung der anderen braucht. Eine Bewegung ist davon geprägt, dass sich alle bewegen, weil sie wissen, dass sie gebraucht werden. Und sie ist gefährdet, wenn jemand meint, alles allein tun zu können.

So fordert Nehemia die Anwesenden auf, eine gemeinsame Antwort zu geben (2,17): „Kommt und lasst uns die Mauer Jerusalems wieder aufbauen.“ Er bittet sie, deutlich zu handeln.
Sie sehen gemeinsam auf den sehr großen Schuttberg, die eingerissene Mauer und auf das, was werden soll: eine geschlossene, stattliche, schützende Mauer, die Jerusalem wieder als Stadt auszeichnet. Hohe Kosten werden entstehen. Große Anstrengungen sind erforderlich. Es wird ein Projekt sein, das uns eigentlich überfordert und große Risiken hat.
Aber es ist jedem von uns klar, dass dieser Schritt dran ist. Mit diesem Ziel vor Augen lasst uns gemeinsam die Herausforderung entschlossen angehen. Der gemeinsame Auftrag und Entschluss verbindet.

Sie schauen auf die unerträgliche Demütigung, die sie als Gottesvolk erleben. Ja, auch sie sind als Volk missachtet und geschmäht: „Lasst uns bauen, damit wir nicht länger geschmäht werden können.“ (2,17b). Und in den Worten „Dass Jerusalem verödet daliegt“ (2,17) schwingt auch die Schmach mit, der Gott ausgesetzt wird, der doch allseits bekannt hier seinen Tempel hat.

Diese Fakten stellen eine hohe Motivation dar.
Nehemia möchte, dass es von Anfang an ihr gemeinsames Projekt ist. Daher sagt er deutlich: „Kommt und lasst uns die Mauer Jerusalems wieder aufbauen.“ Wir sind verantwortlich. Es ist von unserer Bereitschaft abhängig, davon, dass wir den Ernst der Lage und die Chance der Stunde erkennen.
„Lasst uns.“ Nehemia selbst identifiziert sich mit dieser Aufgabe und gibt den Jerusalemern ein Beispiel, es ebenso zu tun. Er bittet sie, dass sie sich zu ihrer Verantwortung stellen und entschlossen anpacken. Gewiss hatte er schon vor Augen, dass viele Bauteams nötig sein würden. In Nehemia 3 lesen wir dann auch von 42 Teams, die an der Mauer arbeiteten. Ein echter Aufbruch gelingt nur, wenn wir mit einer gemeinsamen Vision zusammenarbeiten.
Deshalb handelt Nehemia nach der im Herzen immer mächtiger werdenden Überzeugung. Da ist die Gewissheit, dass Gott Großes tun will. Und dies hat Gott ihn mehrfach erleben lassen. Während die Zuversicht in den Herzen der Juden aufsteigt, dass dieses Bauprojekt gemeinsam möglich wird, ermutigt Nehemia die Anwesenden durch ein persönliches Erlebnis. So berichtet er den Jerusalemern, wie Gott ihn berufen hat, dieses Projekt zu leiten und wie die äußeren Umstände seine Berufung bestätigten. So erzählt er (2,18): „Ich berichtete von der Hand meines Gottes, die gütig über mir gewaltet hatte und auch von den Worten des Königs.“
Dieser persönliche Erfahrungsbericht verdeutlicht, dass Gott Nehemia für diese Aufgabe berufen und bestätigt hat.

Diese Erfahrungen sind wichtig – doch sind sie auch immer wieder bewusst zu prüfen. Das tun auch die Jerusalemer Stadtbewohner. Und sie kommen zu der Überzeugung, dass sich in diesen Ereignissen Gott gezeigt hat. Nun sind sie bereit, gegen alle Einschüchterungen mutig aufzustehen (2,18b): „Da sagten sie: Wir wollen uns aufmachen und bauen!“
Sie haben Nehemias Vision aufgegriffen. Offensichtlich hat das persönliche Zeugnis noch den Eindruck vertieft. Jetzt können die Menschen glauben, dass Gott am Werk ist und sie fassen Mut, sich selbst der Aufgabe zu stellen. So sagen sie quasi: „Lasst uns aufbrechen und zusammenarbeiten!“

Dieser Entschluss der Juden in Jerusalem, aufzubrechen und zusammenzuarbeiten ist die Voraussetzung dafür, dass das Projekt gelingt. Wenn die innere Überzeugung gewachsen ist „Gott stellt uns hier gemeinsam an eine Aufgabe!“, dann kann das gemeinsame Projekt begeistern und zu einer Bewegung werden, bei der nun die Menschen eigenverantwortlich handeln (3,18): „Und sie stärkten ihre Hände zum Guten.“ Die Freude war offensichtlich groß:

  1. „Sie stärkten ihre Hände.“
    D. h. die Menschen ermutigten einander, Hand anzulegen. Die Hände, mit denen die Mauer gebaut werden sollte, wurden durch diese Ermutigung gestärkt und gekräftigt. Eine ähnliche Stärkung seiner Hände erlebte David u.a. durch seinen Freund Jonathan (1 Sam 23,16). Diese Stärkung kann z. B. dadurch geschehen, dass die Gedanken auf Gott gelenkt werden, indem man von weiteren Erfahrungen mit Gott, von seinem Eingreifen berichtet oder indem man jemandem ein Wort Gottes seelsorgerlich zuspricht.
  2. Sie stärkten ihre Hände „zum Guten.“
    Die Stärkung diente einem guten Zweck – nämlich zuversichtlich das Mauerprojekt anzugehen, um Gott zu ehren. Wir alle brauchen diese Vergewisserung für unsere Aufgaben. So spricht Gott Josua noch stärkend zu (Jos 1,9): „Habe ich dir nicht geboten: Sei getrost und unverzagt? Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.“

Auch wir können einander zum Guten unterstützen, indem wir dem anderen unsere Hilfe zusagen.

Es ermutigt, eine große Aufgabe anzugehen, wenn ein Freund uns zusagt: „Ich helfe gern mit. Ich stehe an deiner Seite.“

Nehemia ist nicht länger allein mit dem Mauerprojekt. Eine Stadt steht geschlossen hinter ihm. Und so ist es nur verständlich, dass sich – bei solch einer Entwicklung des Segens – auch massiver Widerstand meldet und zu einem letzten verzweifelten Schlag ausholt. Die Gegnerschaft ist nun auf drei Personen gewachsen. Wie bisher setzen sie die Waffen des Spotts und des Hohnes ein (2,19). Dann ziehen sie die politische Karte, unterstellen den Jerusalemern eine politisch motivierte Aktion gegen den persischen König und drohen mit der Reaktion der übermächtigen Besatzungsmacht.

Aber diese Attacke bleibt wirkungslos. Sie läuft ins Leere. Da es Scheinargumente sind, greift Nehemia sie nicht einmal auf, noch verteidigt er sich. Stattdessen geht er souverän über sie hinweg und tritt den Feinden triumphierend mit der Gewissheit entgegen (2,20): „Der Gott des Himmels wird es uns gelingen lassen; denn wir, seine Knechte, haben uns aufgemacht und bauen wieder auf. Ihr aber habt keinen Anteil noch Anrecht noch Gedenken in Jerusalem.“ So lautet seine entschlossene Botschaft (2,19f.).


Zur persönlichen Besinnung:

  • Welche Erfahrungen habe ich gemacht, die ich als Gottes Berufung, Beauftragung und Bestätigung in meinem Leben sehe?

3. WIR PACKEN AN!

Die Berufung ist nun seine Kraftquelle. Die Berufung lebt so deutlich in ihm und in dem Volk, dass Nehemia mit dem Brustton der felsenfesten Überzeugung drei Dinge sagen kann:

 

  1. “Der Gott des Himmels wird es uns gelingen lassen.“ (2,20a)
    Wir brauchen keine Einzelargumente zu diskutieren. Die Einschüchterungstaktik ist durchschaut und wirkungslos, weil Gott auf unserer Seite steht. Er, der die Welt geschaffen hat, spricht das letzte Wort. So stärkte auch Mose damals das Volk Israel in aussichtsloser Lage mit Gottes Rettungszusage (2 Mose 14,14): „Der Herr wird für Euch streiten und Ihr werdet stille sein.“
    Nehemia hält an der gemeinsamen Berufung und Beauftragung fest. Ja, Gott wird hier für ihn und die Jerusalemer sorgen.
  2. „Wir, seine Knechte, haben uns aufgemacht und bauen wieder auf.“(2,20b)
    Von Gott beauftragt zu sein, befähigt ihn zu dieser mutigen und klaren Ansage! Nehemia weiß sowohl Gott als auch eine ganze Stadt auf seiner Seite. Er kann sich jetzt auf die Worte und Zusagen der Leute verlassen, weil sie gerade einander die Hände stärkten (2,18c).
    So wie er überzeugt von seiner Berufung berichtete, spricht er nun von dem gemeinsam getroffenen Entschluss. Weil die Lücken in der Gemeinschaft geschlossen wurden, können sie sich nun gemeinsam aufmachen, die Lücken in der Stadtmauer zu schließen. Weil Gott beauftragt hat und die Herzen willig macht, handeln die Jerusalemer nun als Knechte des Gottes des Himmels. Gottes Macht und Autorität wird sich zeigen. Damit wird die übergroße Macht deutlich, der sich nun plötzlich die Gegner gegenüber sehen.
  3. „Ihr aber habt keinen Anteil noch Anrecht noch Gedenken in Jerusalem.“
    Nehemia ist durch die gemeinsame Berufungsgewissheit so gestärkt, dass er den Feinden klar ihre Grenzen aufzeigt. Sie stellen sich bewusst gegen Gottes Anliegen. Damit gehören sie nicht zum Volk in der Stadt. Die Mauer grenzt sie aus.

Wenn Menschen wie Nehemia und das Volk in Jerusalem entschieden auf die Seite Gottes treten und seine Stimme in ihr Leben hineinsprechen lassen, dann entsteht eine Bewegung, erfüllt von Gottes Berufung, Auftrag und Kraft.


Zur persönlichen Besinnung:

  • In welchem Bereich meines Lebens oder Alltags will ich aufbrechen? Was ist konkret zu tun?