Wie ich Gott höre

Hören und zuhören sind zwei verschiedene Paar Schuh, das ist keine große Offenbarung. Aber die Unterscheidung dessen, was man gemeinhin so hört und wie es zu interpretieren ist, was der Ursprung, die Quelle des Gehörten ist und damit die Qualität der Bedeutung, das ist schon etwas anspruchsvoller. Dr. Jürgen Schulz nimmt uns mit hinein in seine Gedanken zu der Frage, wie Gott, und damit auch das Richtige,  zu hören ist.

 

Ich habe den Moment noch gut vor Augen, als die erste E-Mail aus Adelshofen in meinem Postfach landete. „Jürgen, wir suchen für ein Theologisches Seminar in Süddeutschland einen neuen Rektor. Wärst du bereit Paderborn zu verlassen?“ Eine lebensverändernde Anfrage. Manche Entscheidungen lenken unsere Zukunft in ganz neue Bahnen. Berufswahl. Studium. Hochzeit. Umzug. Und bei jeder Entscheidung möchte ich auf Gott hören. Denn als Christ gestalte ich mein Leben im Vertrauen, dass Gott mich leitet und lenkt. Ich möchte verstehen, was er mir sagt. Und vor allem möchte ich sicher sein, dass es Gottes Stimme ist, auf die ich gerade höre. Die spannende Frage ist: Wie kann ich das wissen, dass es Gottes Stimme ist, die ich höre?

 

Angst hilft nicht

Viele Jahre habe ich mit der Unsicherheit und Angst gelebt, zwischen den unzähligen Stimmen, die ich tagtäglich höre, Gottes Stimme zu verpassen. Schule, Fernsehen, Sportvereine, Musikunterricht, Werbung, Zeitschriften, Freunde, Eltern, Verwandte, Fremde – jeder hat was zu sagen. Jeder hat seine Art mir die Welt zu erklären. In dem ganzen Gewirr von Stimmen, gab es aber immer besondere Stimme. Die meiner Uroma zum Bespiel. Sie erzählte Geschichten über Geschichten über Gottes Schutz und Bewahrung, während sie in Sibirien ums Überleben kämpfte. Ich habe heute noch ihre Dankgebete im Ohr. Oder die Stimmen meiner Eltern. Wie sie mutig das Leben anpackten, Entscheidungen trafen, Niederschläge hinnahmen und vertrauensvoll weitergingen. Immer im Hören auf Gott. In meiner Familie erlebte ich, wie ich auf Gott höre. Hier lernte ich die Grundlagen, die auch heute noch mein Leben prägen: Will ich Gott reden hören, muss ich die Bibel kennen, in der Gemeinschaft der Gemeinde bleiben, beten und um Rat fragen.

 

Als Christen glauben und bekennen wir, dass die ganze Schöpfung von Gott redet (Psalm 19,1-5). Mit jeder Wanderung und jedem Spaziergang staune ich mehr über ihn. Wir dringen als Menschen inzwischen in die Tiefen des Weltalls vor und die Faszination für das Universum wächst. Hinter dieser einzigartigen und wunderschönen Schöpfung steht Gott. Und ihn darf ich kennen. Die Schönheit der Natur hilft mir aber wenig weiter, wenn es um die Frage geht, ob ich Rektor eines Theologischen Seminars werden soll. Hierfür brauche ich eine Beziehung zu Gott, die durch das Lesen der Bibel an Tiefe gewinnt. Umso mehr ich in der Bibel lese, umso mehr lerne ich Gott kennen. Psalm 1 ist eine Einladung, täglich über Gottes Wort nachzudenken, denn wer das tut, blüht im Leben auf. Psalm 119, das längste Kapitel der Bibel, ist eine Hommage, ein Loblied an Gottes Wort. Wer es lernt auf Gottes Wort zu hören, begegnet Gott (107), wird vor Elend bewahrt (92), wird weise (98), wird fröhlich (111), kann zwischen Recht und Unrecht unterscheiden (121) wird glücklich und lebt auf (1-2, 144). Bitte nicht Falschverstehen: ich rede hier nicht von einem Wohlstandsevangelium á la „wenn du nur intensiv genug Bibel liest, überwindest du alle Probleme.“ Ich rede von Weisheit. Gott selbst redet durch sein Wort und macht dich weise.

 

Wo wir Weisheit finden

Dass wir als Gesellschaft Gott kaum noch kennen, überrascht mich nicht – wir sind ein säkulares Land. Dass aber immer weniger Gläubige in unseren Gemeinden die Bibel kennen, schmerzt. Die Bibelkenntnisse nehmen immer stärker ab. Seit Jahren beobachten theologische Ausbildungsstätten den Trend, dass ihre Studienanfänger immer weniger Bibelwissen mitbringen. Wir wissen, dass zwischenmenschliche Beziehungen nur lebendig bleiben, wo wir Zeit zusammen verbringen, uns für den Mitmenschen interessieren, hinhören und miteinander das Leben teilen. Wenn ich die Bibel lese, höre ich Gottes Stimme. Ich lerne seine Gedanken kennen. Ich verstehe, wie er sich das Leben vorstellt und tauche in seine Welt ein. Faszinierend. Anders. Wunderschön. Manchmal komisch und für mich nicht ganz nachvollziehbar. Das gilt aber auch für zwischenmenschliche Beziehungen. Auch wenn ich bei meiner Frau nicht alles verstehe, verbringe ich dennoch Zeit mit ihr, höre ihr zu und interessiere mich für ihre Sicht der Dinge. Wenn wir als Christen und Gemeinden wieder stärker Gottes Stimme hören wollen, müssen wir wieder ganz neu anfangen die Bibel zu lesen. Von Deckel zu Deckel. Von Genesis bis Offenbarung. Dass die Bibel für die Alltagsentscheidungen von entscheidender Bedeutung ist, hat schon der Apostel Paulus dem jungen Timotheus mitgegeben. Paulus erinnert Timotheus an sein frommes Elternhaus und die besondere Bedeutung der „heiligen Schriften, die dir Weisheit verleihen können …“ (2Tim 3,15). „Heilige Schriften“ bezieht sich hier vor allem auf das Alte Testament – das neue entsteht ja gerade erst. Durch die heiligen Schriften wird Timotheus weise.

 

Ich will in meinem Leben weise Entscheidungen treffen. Ich möchte ein gutes Leben führen und durch meine Entscheidungen das Leben in gute Bahnen lenken. Meine Entscheidungen haben Auswirkungen auf das Leben meiner Familie, meiner Gemeinde, des Kollegiums, des Teams in der Stiftung und Kommunität, der Studierenden, der Freunde und Beter des Werkes und alle die mich kennen. Umso mehr Verantwortung wir übernehmen, umso größer wird unser Wirkungskreis. Damit ich dieser Verantwortung gerecht werde, muss ich nahe bei Gott bleiben.

 

Er hat mich gekannt

Als ich die erste E-Mail aus Adelshofen in meinem Postfach fand, war ich vorbereitet. Nein, ich hatte bis zu dieser E-Mail keine besondere Beziehung zu Adelshofen. Aber ich hatte wenige Woche zuvor ein wegweisendes Gespräch mit einem Freund und Mitarbeiter in der Gemeinde. Er sagte mir, wir müssen langsam meinen Abschied vorbereiten. Ihm ist klar geworden, dass ich bald einen anderen Dienst antreten werde. Er sah meine Zukunft nicht im Pastorendienst, sondern in der theologischen Ausbildung. Er sprach mich nicht auf das Thema an, weil er ein besonderes Wort von Gott empfangen hat. Oder weil er in einem hörenden Gebet eine Eingebung empfing. Oder weil er für sich die Gabe der Prophetie entdeckt hat. Nichts von all dem. Er war jemand der mich kannte, der Gott liebte, Gottes Wort kannte und mit mir gemeinsam in der Gemeinde diente. Er wollte, dass mein Abschied nicht überraschend kommt. Er wollte, dass die Gemeinde darauf vorbereitet ist. Und er wollte mir die Freiheit geben, mich langsam von der Gemeinde und meinem Dienst zu lösen. Ich glaube, wir unterschätzen die Bedeutung der Kraft der Gemeinschaft der Gemeinde. Die Gemeinschaft der Gemeinde ist besonders. Hier wirkt Gott durch seinen Geist in besonderer Weise (Epheser 2,19-22).

 

Wenn ich von einer christlichen oder geistlichen Gemeinschaft spreche, dann geht es um viel mehr als soziale Beziehungen. Eine Gemeinschaft kann sehr oberflächlich bleiben. Wenn wir in die Bibel hineinschauen, bedeutet christliche Gemeinschaft aber, dass sie tiefer geht als die DNA einer Familie. Christliche Gemeinschaft lebt aus dem Selbstverständnis, dass sie durch Gott gestiftet wurde. Weil eine christliche Gemeinschaft von Gott kommt, bestimmt Gott auch die Werte und Ziele der Gemeinschaft. In dieser und durch diese Gemeinschaft redet und wirkt Gott. Wir erleben und erfahren Gott in der Gemeinschaft, indem wir uns selbst in die Gemeinschaft investieren. Gott nimmt uns in die Verantwortung, diese Gemeinschaft mitzugestalten, indem wir uns füreinander ehrlich interessieren. Aufeinander achten. Fragen, wie es dem anderen geht. Nach unseren Möglichkeiten mit allen Menschen im Frieden leben. Einander ermutigen, Lebensziele zu erreichen. Freude und Trauer miteinander teilen.

 

Mein Freund brauchte keine besondere Offenbarung Gottes – er hatte die Gemeinde. Er kannte Gott, er kannte mich und wir teilten miteinander das Leben. Er konnte mir Ratschläge und Gedanken mitgeben, die eine ganz besondere Qualität hatten. Weil wir beide eine tiefe Beziehung zu Gott pflegen, hat auch unsere Freundschaft eine besondere, geistliche Qualität. Dieser kurze Satz von Dietrich Bonhoeffer drückt es treffend aus: Eine christliche Gemeinschaft lebt aus der Fürbitte der Glieder füreinander, oder sie geht zugrunde.

 

Die Bedeutung der Gemeinschaft

Wenn ich Gott hören will, brauche ich meine Gemeinde. Ich bin auf die Gebete der Gemeinschaft angewiesen. So sehr Gottes Wort und die Gemeinde eine Bedeutung haben, nur wenn die Mitglieder meiner Gemeinschaft beten und mit Rat und Tat zur Seite stehen, entfaltet die Gemeinde auch ihre Kraft. Das wir in Adelshofen eine geistliche Gemeinschaft sind, drückt sich auch durch das Mittagsgebet aus. Ich versuche nach Möglichkeit immer dabei zu sein. Ich will innehalten. Mein Herz auf Gott ausrichten. Den Vormittag hinter mir lassen, für den Nachmittag bewusst Gottes Weisheit suchen. Ich will Gott hören. Also gehe ich beten. Beten ist geheimnisvoll. Ich weiß, dass ich dem heiligen Gott nahekomme. Ich darf ihm begegnen. Ich ringe mit Gott, bringe ihm meine Zweifel und Sorgen. Ich gehe ins Gebet, weil ich realistisch auf das Leben blicken möchte. Meine Gedanken betrügen mich, Gottes Gegenwart schafft Klarheit (Psalm 73,17). Ich gehe auch ins Gebet, weil ich das Unmögliche erwarten möchte. Als der Apostel Petrus durch einen Engel aus dem Gefängnis befreit wird und an die Tür klopft, kann es die Gemeinde erst gar nicht glauben (Apostelgeschichte 12,15). Zwei Dinge werden mir bei diesem Ereignis jedes Mal neu wichtig. Erstens, als Petrus ins Gefängnis kommt, trifft sich die Gemeinde, um zu beten (12,12). Zweitens, die Gemeinde rechnet nicht damit, dass Petrus überhaupt noch lebt (12,15). Doch Gott überrascht die Gemeinde. Während sie beten handelt er. Für uns Christen ist das Unmögliche Teil der Wirklichkeit. Wir erwarten, dass unfassbare Dinge geschehen. Diese Haltung will ich nicht verlieren, und mit der Haltung gehe ich ins Gebet. Diese Haltung prägt unser Gebetsleben in Adelshofen und ich wünsche mir, dass unsere Absolventen solche Beter sind.

 

Mit Menschen an der Seite, die so ihr Leben gestalten, habe ich immer gute Ratgeber in der Nähe. Wenn ich Gott reden hören will, brauche ich Menschen, die mir helfen, dass ich mich nicht selbst betrüge. Wir Menschen neigen dazu, selbst die Entscheidungen irgendwie zu rechtfertigen, die nicht weise sind und manchmal schlicht im offenen Widerspruch zu Gottes Willen stehen. Die Bibel spricht offen davon, dass ein Plan da gelingt, wo viele Ratgeber sind (Sprüche 15,22). Was heute oftmals in Coaching, Mentoring und Seelsorge läuft, ist seit jeher die Kernaufgabe der Gemeinde: Jüngerschaft. Wir fördern einander, achten aufeinander, beraten einander.

 

Wir sind als Familie umgezogen. Wir haben nach viel Gebet, intensiven Beratungsgesprächen mit kompetenten Ratgebern und konstruktiven Begegnungen in Adelshofen die Entscheidung getroffen, dass Gott uns nach Adelshofen ruft. Am Ende hatten meine Frau und ich einen tiefen Frieden, dass dieser Schritt für uns jetzt dran ist. Wir haben keine Stimme Gottes vom Himmel wahrgenommen – aber Gott hat geredet und wir haben hingehört.

 

 

Dr. Jürgen Schulz, verheiratet mit Lydia und Vater von vier Kindern, ist seit Januar 2023 Rektor des Theologischen Seminars Adelshofen. Er hat eine tiefe Liebe zur Gemeinde, eine Leidenschaft für das Alte Testament und meint: geht nicht, gibt´s nicht!